Hallo Wello,
Zitat von WELLO
Vielleicht wäre noch zu ergänzen: es genügt, die eigenen Bedürfnisse als relativ und damit als veränderbar anzusehen. Auf ein paar Basisbedürfnisse können wir ja nicht verzichten - Essen, Trinken etc. Aber auf viele andere schon, wenn wir uns klarmachen, weswegen wir sie eigentlich haben. Sie entstehen ja immer aus unseren Vorstellungen darüber, was erstrebenswert oder vermeidbar sein sollte, also unseren Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten und Befürchtungen.
Wenn wir uns unsere Vorstellungen darüber nicht von anderen beeinflussen lassen, sondern Überlegungen darüber selbst anstellen, dann haben wir bereits ein großes Stück Freiheit gewonnen. Sonst spielen andere auf diesem Klavier, und das wird ja von vielen weidlich ausgenutzt. Sie besetzen dann unsere Vorstellungswelt und können uns dann nach Gutdünken beeinflussen... Mit unserer Freiheit ist es dann nicht mehr weit her.
Ich stimme dir zu, daß Bedürfnisse veränderbar sind und ganz besonders stimme ich dir auch darin zu, daß das Gefühl der Freiheit in dem Maße wachsen kann, in dem man sich über die Motivationen, die das eigene Handeln bestimmen, Klarheit verschafft.
Am Beispiel: wenn ich als 'verklemmte Wessi' in ernsthafte Nöte gerate, weil während einer Diavorführung bei den Schwiegereltern auch Bilder gezeigt werden, auf denen die Schwiegereltern nackt sind, dann fühle ich mich erstmal unfrei (ehrlich gesagt: ich war froh, daß die Stube dunkel war, mein Gesicht muß geleuchtet haben wie eine rote Ampel und ich wußte wirklich nicht, wo ich hinsehen sollte). Wenn mir anschließend im Gespräch mit meinem Mann klar wird, daß in der ehemaligen DDR Nacktheit weder anstößig noch ungewöhnlich war und infolgedessen es keine merkwürdige Art sexualisierten Übergriffes auf mein Schamempfinden von Seiten der Schwiegereltern darstellte, mir solche Urlaubsfotos zu zeigen, dann kann ich meine Erziehung hinterfragen und mir klarwerden: mein Schamempfinden und die daraus resultierende Empörung über das Zeigen der Fotos beruht auf engen, moralisch und religiös verankerten Regeln, die in erster Linie die Frau verantwortlich dafür machen, ob sie als „Hure“ oder „anständige Frau“ wahrgenommen wird. Nur ein Regelwerk, das ich zwar verinnerlicht habe, das aber heute und hier keine Gültigkeit hat. Dem entsprechend also: ich verstehe, warum meine Reaktion so heftig ausgefallen ist, ich kann mein Bedürfnis nach Unverletzbarkeit meiner Intimsphäre in diesem Zusammenhang anpassen (ändern) und kann mich (hoffentlich irgendwann) so frei fühlen, selbst zu entscheiden, ob ich Nacktheit am Badestrand anstößig finde oder nicht.
Ist übrigens ein langer, mühsamer Weg, finde ich – sich von materiellen Bedürfnissen frei zu machen, fällt relativ leicht. Tief verwurzelte moralische Ansprüche und auch das Bedürfnis, gemocht zu werden oder Anerkennung zu bekommen wird man nicht so einfach los – will man teilweise auch nicht loswerden.
Zitat von bummi
nur in religiösen kontexten, @ooojeee?
keinesfalls.
der satz oben drüber, allein, sagt da schon mehr aus.
Hallo kh, in welchem Punkt bist du anderer Meinung als ich?
Ich schrieb von der Loslösung von Dingen, Menschen und Wertesystemen. Ich glaube, von Dingen kann man sich relativ leicht lösen, von Wertesystemen mit etwas Arbeit an sich selbst zwar nicht ganz so leicht, aber es geht. Aber sich von Menschen loslösen, sprich, vom Bedürfnis nach Zuneigung für die Eltern, der Liebe für die eigenen Kinder oder auch "nur" von der Wärme, die ein gutes Verhältnis zu Freunden und Kollegen vermittelt: das mag zwar möglich sein, nur kann ich mir nicht vorstellen, aus welcher Motivation heraus ein Mensch derart weitreichende Loslösung emotionalen Bindungen anstreben sollte. Erlebt (in Ansätzen) habe ich solche Bestrebungen bisher nur bei katholischen Ordensfrauen (die Liebe zu Gott wurde wichtiger als persönliche Bindungen an die Familie), gelesen habe ich gelegentlich ähnliches im Zusammenhang mit Buddhismus.
Meine Schlußfolgerungen daraus müssen deshalb aber nicht stimmen, mir fällt nur keine andere Motivation außerhalb religiöser Zielsetzungen ein, sich emotional "frei" zu machen.
Hallo JoeSachse, ich kann mir sehr gut vorstellen, wie man sich als Bürger der DDR relativ frei fühlen konnte. Als Mädchen von 10 oder 11 Jahren bin ich mal mit meiner Pflegefamilie zur Familie meiner Pflegemutter in die DDR gefahren. Kurz nach der Grenze sah ich eine Frau im "Blaumann" (hießen diese Arbeitsanzüge bei euch auch so?) - sie schippte Kohlen.
Mir schien das der Gipfel an Freiheit zu sein. Ich wollte auch gerne berufstätig werden und selbst arbeiten gehen, meine damalige Perspektive aber war: groß werden, heiraten, Hausfrau werden. Mir schienen die DDR-Frauen da viel freier zu sein. Und daß ein Softeis bei euch dann bloß 10 Ostpfennige gekostet hat, war in meinen Augen das Tüpfelchen auf's i :-)
Ich glaube, wenn man selbst in einer Situation nicht gelebt hat, kann man vieles einfach nicht begreifen und dann fällt es schwer zu glauben, daß ein anderer kein Bedürfnis hat, an seinen Rahmenbedingungen etwas zu ändern. Probleme bekommt doch eigentlich vor allem der, dessen Bedürfnisse von seinem Lebensumfeld und den geltenden "Spielregeln" eingeschränkt oder verletzt werden.