Lange habe ich mich hier zurück gehalten. Möchte nun aber ebenfalls einen Bericht beisteuern.
Frauchens Bruder Andy ist mit einer Russin verheiratet. Beide sind schon ewig zusammen und haben eine Tochter. Andys Frau Oksana stammt aus einem Dorf ca. 2,5 Autostunden südöstlich von Moskau entfernt. Oksanas Eltern sind Pensionäre und leben immer noch dort. Beide lieben Russland. Für Oksana ist Russland immer ein Stück Heimat geblieben. Andy hat dieses Land dank seiner Frau entdeckt und schwärmt davon, seit ich ihn kenne. Er spricht schon lange fließend russisch. Solange ich mit Frauchen zusammen bin, gings für die beiden im Urlaub immer nur nach Russland. Natürlich zu den Eltern/Schwiegereltern. Aber beide haben auch immer wieder das Land bereist. Vom europäischen Teil bis nach Wladiwostok. Ich glaube die haben in den letzten 20 Jahren den Großteil dieses Riesenreiches besucht.
Wie bereits gesagt. Andy liebt dieses Land. Schwärmt immer von den Menschen, den wunderschönen weiten Landschaften. Für ihn ist es das Paradies auf Erden. Beide planen seit langem, ihren Altersruhesitz in Russland zu nehmen. Sie unterstützen seit Jahren Oksanas Eltern bei der Instandhaltung des Hauses. Haben da einiges investiert. Dort wollen sie ihren Lebensabend verbringen. Beide haben ein ordentliches Gehalt. Andy arbeitet seit vielen Jahren bei einer Elektrofirma, ist dort sowas wie der Vertreter vom Chef. Oksana ist Lehrerin. Mit ihrer deutschen Rente könnten die beiden in Russland sehr gut leben.
Vor kurzem waren beide in Russland. Russen haben oftmals sehr enge Familienbande. Deshalb gings mal wieder zu Oksanas Eltern. Die beiden haben lange überlegt, ob sie das angesichts der aktuellen Lage überhaupt machen sollten, aber Familie ist Familie. Und so entschloss man sich, doch zu fahren. Anstatt bequem mit dem Flieger, gings diesmal per Bahn bis ins Baltikum. Von dort weiter nach Russland. Dann mit einem russischen Mietwagen zu Oksanas Eltern. Im Dorf haben beide viele Freunde. In den Jahren zuvor gabs jedes Mal ein großes Hallo, als die beiden kamen. Es wurde gefeiert, der Wodka floss in Strömen. Diesmal - nichts! Gar nichts. Ganz im Gegenteil. Die meisten "Freunde" haben Oksana und Andy ignoriert. Einige Tage später, während eines Besuchs bei einer alten Studienkollegin von Oksana, hat die ihr gesteckt, warum das so ist. Die Menschen haben Angst. Schnell stehe man heute in Russland unter Verdacht, Kontakte zu ausländischen Agenten zu haben und es reiche bereits, sich mit Leuten aus dem Westen zu treffen. Dann hat man schnell Ärger mit der Staatsmacht. Aber auch innerhalb der Familie gabs wohl Zerwürfnisse. Oksanas Eltern haben die ganze Zeit versucht, ihre Tochter zum Bleiben in Russland zu überreden. In Deutschland würden russische Frauen gezwungen in Bordellen deutsche Männer zu bedienen. Russische Frauen müssten in deutschen Haushalten regelrechte Sklavenarbeit verrichten u.ä. Geschichten wurden da aufgetischt. Das Schlimme ist, solche Schauermärchen werden den Leuten da drüben tagtäglich von den Staatsmedien aufgetischt. Und viele Russen glauben das tatsächlich. Auch Oksanas Bruder. Der lebt in Toljatti und arbeitet eigentlich bei AwtoWas. Eigentlich deshalb, weil seit dem Rückzug von Renault-Nissan kaum noch produziert wird. er muss manchmal 3 Tage oder mal 5 Tage im Monat arbeiten. Je nachdem, ob man wieder mal ein paar Teile aufgetrieben hat. Dafür bekommt er ca. 60 % seines ursprünglichen Gehaltes. Allerdings weiß niemand, wie lange noch. Zum Leben reicht das längst nicht mehr, man kann wohl gerade so überleben. Auch in Russland sind viele Preise regelrecht explodiert. Den Schuldigen an dieser Misere kennt er auch. Andy und der gesamte Westen sind schuld! Am Ende kams zum grossen Krach und Oksanas Bruder ist vorzeitig abgereist.
Andys Leidenschaft ist die Landwirtschaft. Vor allem die Landmaschinen haben es ihm angetan. In den vergangenen Jahren hat Andy oft auf der Kolchose geholfen, während der Erntezeit. Dort mit diesen Dingern über die riesigen Felder tuckern, das Schrauben an diesen Maschinen - das war für ihn immer das Größte. Das war für ihn Erholung. Da hat er sich immer das ganze Jahr drauf gefreut. Diesmal blieb für ihn die Tür zu. All die Jahre hat man sich immer gefreut, wenn dieser verrückte Deutsche kam und von früh bis in die Nacht mit auf den Feldern unterwegs war. Längst hatte er dort viele Freunde gefunden. Aber kaum jemand wollte überhaupt mit ihm reden. Dabei haben die mittlerweile genug Probleme. Ein Teil der Männer ist verschwunden. der ein oder andere wird vielleicht grad im Krieg sein, vielleicht auch gar nicht mehr leben. Andere sind im Ausland. Zu den Personalproblemen kamen die Probleme mit den Maschinen. Ein Teil wurde ausgeschlachtet um andere am Laufen zu halten. Auch in Russland arbeitet man heute mit Maschinen von John Deere, Krone und anderen namhaften Herstellern. Es gibt aber keine Ersatzteile mehr. Wenn kaputt, dann Pech. Auch Software-Updates gibts nicht mehr. Diese Dinger sind ja heute nur so vollgestopft mit Computertechnik. Aber - lange Rede kurzer Sinn. Laut Andy sind ca. ein Drittel der Maschinen auf dieser Kolchose ausgefallen.
Zur Versorgungslage. Grundnahrungsmittel gibt es genug. Auch wenn hier die Preise z.T. deutlich nach oben gegangen sind. Manchmal dauert es einige Tage, bis man das Gewünschte kaufen kann. Aber zumindest die alten Russen können damit recht gut umgehen. Die jungen Leute kennen das nicht und haben deutlich mehr Probleme mit der Situation. Grundnahrungsmittel sind auch das einzige, was man im Dorf noch kaufen kann. Viele Leute fahren einmal im Monat nach Moskau, um sich mit nötigen Dingen zu versorgen. Dort ist die Versorgungslage um vieles besser. Allerdings sagten die beiden, viele Geschäfte in Moskau stehen mittlerweile leer. Auch die Russen sind es mittlerweile gewohnt, westliche Produkte zu konsumieren. Die gibts aber oft nur noch auf den Märkten zu exorbitant hohen Preisen. Die Leute vermissen diese westlichen Produkte. Nudeln, Käse, Salami, Joghurt - für uns ganz normale Dinge des täglichen Bedarfs. In Russland heute für viele unbezahlbar. Die beiden waren mit Oksanas Mutter zum Einkaufen in Moskau. Obwohl Vater und Mutter eine für russische Verhältnisse recht gute Rente bekommen, können die sich vieles nicht mehr leisten. Also haben Oksana und Andy ein paar Sachen gekauft. Spaghetti gabs für 400 Rubel das 500 gr Paket. Das sind fast 7 Euro. Holländischen Gouda ab 40 € das Kilo. Kaffe. Viele Russen vermissen Kaffee. Auch wenn das eigentlich ein Volk von Teetrinkern ist, man hat sich die Tasse Kaffee zwischendurch angewöhnt. Leider kostet auch der um die 40 - 50 € das Kilo. Geflügel ist absolute Mangelware und wird zu Preisen gehandelt, wie bei uns das feinste Rinderfilet. Die russische Wirtschaft versucht zwar vieles selbst zu produzieren, allerdings hat man fast keine Erfahrung damit. Gut, der russische Käse sah auf den Fotos aus, wie Käse eben aussieht. Der Geschmack soll aber fürchterlich gewesen sein und an saure Milch erinnert haben. Die Salami sah auf Fotos nicht mal wie Salami aus. Eher wie ein grosser Fettklumpen mit irgendwelchen Fleischstücken oder was auch immer drin, aus. Jetzt kann man sagen, braucht man das alles denn überhaupt? Nöö, natürlich nicht. Aber stellt euch mal vor, von heute auf morgen gibt es in Deutschland 80 % der gewohnten Produkte nicht mehr zu kaufen. Dann wird das über kurz oder lang schon zum Problem.
Ähnlich sieht es bei Elektronik aus. Es gibt zwar Handys zu kaufen, Notebooks, Fernsehgeräte, usw. Aber fast nur nur noch billige asiatische Kopien, die qualitätsmäßig nicht mal in die Nähe der Originale kommen. Wem heute in Russland das Handy, der Kühlschrank, die Waschmaschine oder andere Geräte kaputt gehen, der kriegt nix neues. Es gibt kaum noch Ersatzteile und noch weniger Neuware. Warum wohl plündern russische Truppen gerade elektrische Haushaltsgeräte in der Ukraine?
Mittlerweile sind die Beiden ja wieder in Deutschland. Beide schildern die Zustände in Russland etwas anders, als es z.B. mutterheimat tut. Dabei sind das zwei Menschen, die eine wirklich enge Beziehung zu diesem Land haben. Die dieses Land lieben und es lange, trotz des Einmarsches in die Ukraine verteidigt haben. Nun haben sich beide entschlossen vorläufig nicht mehr nach Russland zu reisen. Zumindest so lange nicht, bis sich die politischen Verhältnisse dort im Land geändert haben. Andy haben die jüngsten Erlebnisse in Russland schon ziemlich getroffen, aber Oksana ist ziemlich fertig. So schlimm hat sich das keiner von beiden vorgestellt.
Vielleicht mag sich ja mutterheimat zu den Erlebnissen von 2 absoluten "Russland-Insidern" äußern. Ich wäre jedenfalls gespannt auf ein Statement.
Viele Grüße und ein angenehmes Wochenende,
micha