Ich hab da was entdeckt:
Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem Ihnen die gesellschaftliche Ächtung oder sogar empfindliche Strafen drohen, wenn Sie öffentlich kundtun, es stimme nicht, dass der Himmel grün sei. Sie sind aufgebracht, weil dies ständig erzählt wird und inzwischen viele Menschen, die Sie kennen, dasselbe behaupten. Sie fragen sich, warum etwas verbreitet wird, das jeglicher Realität zuwiderläuft, und wie es sein kann, dass eine große Mehrheit der Falschbehauptung aufsitzt. Unablässig zeichnen Medien und Politik ein anderes Bild als das, was Sie Tag für Tag mit Ihren eigenen Augen sehen. Sie haben den Himmel schon in den unterschiedlichsten Blautönen erlebt, grau, schwarz, sogar blutrot. Dass er aber jemals grün gewesen sei, daran können sich nicht einmal Ihre Großeltern erinnern. Und doch hören Sie unentwegt nur diese eine Erzählung, auf allen TV-Kanälen, überall im Internet und in jeder Zeitung. In den Sozialen Netzwerken finden Sie immerhin Mitstreiter, die ebenfalls nicht fassen können, was Sie da täglich zu hören und zu lesen bekommen. Sie tauschen untereinander persönliche Erlebnisse aus. Einige Ihrer neuen Internetbekanntschaften stellen tolle Aufnahmen ins Netz, doch nie ist die Farbe Grün zu sehen. Die Bilder werden von den Netzwerkbetreibern gelöscht, manchmal auch das dazugehörige Nutzerkonto. Es verstößt gegen die sogenannten Gemeinschaftsstandards, Fotos vom Himmel zu veröffentlichen, die andere Farben zeigen als die zulässigen Grüntöne. Je häufiger Sie vom grünen Himmel hören, desto wütender werden Sie. Sie möchten sich nicht mehr hinter die Fichte führen lassen und tun dies öffentlich kund. Gemeinsam mit Gleichgesinnten beschließen Sie, gegen die polit-mediale Falschdarstellung auf die Straße zu gehen.
Den Anspruch der Herrschenden auf die Wahrheit infrage zu stellen, macht Sie zum „Delegitimierer“, der sicher bald zu ganz anderen Mitteln greift
Hier fangen Ihre Probleme aber erst so richtig an. Die Erfinder der himmelweiten Grünfärbung waren darauf vorbereitet, dass Millionen die Wahrheit nicht nur kennen, sondern auch verteidigen würden. Im Fokus steht nun nicht mehr die Diskussion darüber, wer denn Recht habe, obwohl diese Frage für alle Vernunftbegabten längst beantwortet ist, sondern die Kriminalisierung der Proteste. Wer gegen das Dogma vom grünen Himmel zu Felde zieht, gilt als Staatsfeind. Den Anspruch der Herrschenden auf die Wahrheit infrage zu stellen, macht Sie zum „Rechten“, der sicher bald auch noch zu ganz anderen Mitteln greifen werde. „Delegitimierer“ heißen diese gefährlichen Subjekte ab sofort. Die Gesellschaft müsse wachsam sein gegenüber solchen Extremisten, für deren Bekämpfung man umgehend mehr Steuermittel in die Hand nehmen werde, verkünden die zuständigen Minister. „Gehen Sie nicht dorthin, laufen Sie nicht mit“, mahnen führende Politiker nahezu aller Parteien. Die Schlinge zieht sich immer weiter zu: Mit massivem Polizeiaufgebot werden die Demonstranten schon seit Wochen regelrecht in die Flucht geschlagen. Vielerorts werden die „Aufmärsche“, wie die Proteste nun heißen, sogar ganz verboten. Erlaubt sind hingegen weiterhin Demonstrationen für die Regierungspolitik. Man müsse das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einschränken, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, heißt es, obwohl für Augenzeugen nirgends zu erkennen war, dass die friedlichen Realitätsverteidiger eine Gefahr dargestellt hätten. Eher waren es Gegendemonstranten, die mit körperlichen Angriffen, Sachbeschädigungen und Tätlichkeiten gegen Einsatzkräfte für eine Eskalation gesorgt hatten. Doch wer den Himmel grün färben kann, kann auch friedliche Demonstranten zu Extremisten machen.
Erst als es zu blutigen Auseinandersetzungen kommt, lenken manche Mitläufer ein: Man habe das mit dem grünen Himmel ja nie so richtig geglaubt
Inzwischen beschäftigen sich von der Regierung zertifizierte „Experten“ mit der Frage, wie man der zunehmenden Grünfärbung des Himmels entgegenwirken könne. An den Universitäten wurden erste „Lehrstühle für Grünapokalypse“ eingerichtet. Eine ganze Industrie profitiert längst davon, dass alle staatlichen Entscheidungen unter „Himmelsvorbehalt“ stehen. Die These hat sich durchgesetzt, dass der Mensch mit seiner Lebensweise für den grünen Himmel gesorgt hat. Ein Maßnahmenprogramm, das himmelgefährdendes Handeln unter Strafe stellt und eine Himmelssteuer vorsieht, steht kurz vor der Verabschiedung. Die Zustimmung der Bürger ist überwältigend, wie Umfragen ausweisen. Sie ist zuletzt sogar deutlich gewachsen. Wer will seinen Kindern schon einen grünen Himmel hinterlassen? Tragen wir nicht alle eine Verantwortung für künftige Generationen? Himmelverbände mahnen zur Eile. Sie haben unlängst gerichtlich erzwungen, dass die Himmelsrettung Verfassungsrang erhalten muss. „Wir können nicht einfach so weiterleben wie bisher“, heißt es aus dem Umweltministerium, „wer immer noch nicht sieht, dass die Farbkatastrophe bevorsteht, muss die ganze Härte unseres Rechtsstaats zu spüren bekommen“. Erste Politiker bringen das Blenden ins Spiel. Farb-Leugner, die nicht sehen wollen, dass der Himmel grün ist, bräuchten doch eigentlich gar nichts mehr zu sehen. Immer radikaler werden die Forderungen, immer unversöhnlicher die Debatte. Erst als es zu blutigen Auseinandersetzungen kommt, lenken manche Mitläufer ein. Man habe das mit dem grünen Himmel ja nie so richtig geglaubt, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Das Eingeständnis kommt allerdings zu spät, der Totalitarismus hat gesiegt. Eine schlimme Vorstellung, nicht wahr? Seien Sie bloß froh, dass Sie nicht in einem Land leben, in dem man Ihnen weismachen will, der Himmel sei grün.
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