Zwei Ouzo auf dem Tablett...
von henry77
Der 1. März 2013. Ein ganz gewöhnlicher Alltag im Jahre 2013. Eigentlich ein Datum zum Anstoßen. Das wissen allerdings nur Insider. Trotzdem – ein Prost wird es noch geben, unverhofft... Indessen gehen zwei ältere Leute Hand in Hand über die Wald- und Feldwege. Nasskälte. Matsch. Geschmolzener Schnee. Ab und zu der Ruf einer wilden Taube. Er trägt eine Sonnenbrille. Um die Augen zu schützen vor dem scharfen Wind. Sie hat rote Wangen und ein lachendes Gesicht. Wie jung sie aussieht, denkt der Alte. Manche tippen nicht über 55. Sie bemerken nicht, da sind noch Jahre draufzuschlagen. Sie lachen, sie drücken sich, sie purzeln über Stock und Stein, ausgelassen wie Kinder. Sie haben eine glückliche Zeit hinter sich, unangefochten von gesellschaftlichen Unstimmigkeiten...
Doch mitunter schweigt der Alte, dessen grau meliertes Haar noch nicht auf seine 76 Jahre schließen lässt. Bilder aus der Vergangenheit steigen in ihm hoch. Die vielen Dienstorte, (Plauen i.V., Eggesin, Potsdam, Neubrandenburg), die zahlreichen Umzüge, die Truppenübungsplätze, die Nächte in freier Natur bei Wind und Wetter. Und als Ausbilder und Militärjournalist in zweiunddreißig Dienstjahren - bewaffnet mit Schreibblock und Bleistift – tausende Gespräche mit klugen und weniger klugen Menschen in der Uniform der Nationalen Volksarmee. Eine entschwundene Zeit, die viel Nachdenklichkeit und Tatkraft erfordert hat. Und die ihre Erben sucht in neuen Zeiten der bedrohlichen Unbedenklichkeiten.
Achtung, eine Pfütze, ruft die Frau – im Buch „In die Stille gerettet“ als Cleo bezeichnet - ihrem Mann zu. Sie sorgt sich um ihn. Sie wolle ihn wieder rauskratzen, hatte sie gedroht, falls er vorzeitig in die Grube fahren sollte. Und wenn? Was wäre von ihm übrig? Er war sehr lieb zu seiner Lieben. Aber auch komisch. Hatte lauter Ideen im Kopf und Spinnereien, möglicherweise zum Verdruss mancher Gesprächspartner. Immer fand er etwas zum Sticheln, die große Weltpolitik betreffend, obwohl er mit kleinsten Dingen zufrieden sein konnte. Hatte er ein Opfer gefunden, so ließ er es nicht so schnell wieder los. Ja, es passierte, dass er seinen Gesprächspartner sogar – peinlich, peinlich - am Ärmel packte, um so seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Der Weg führt am Feldrand entlang. Man hat einen weiten Blick bis zum Horizont. Beide zockeln bei jeder Jahreszeit hier vorbei. Mal ist das Feld gelb-grün, voller Raps, mal weizengelb, mal braungrau im Herbst, mal weißgrau voller Schnee. Überhaupt, so finden die zwei Leutchen, sieht die Landschaft immer wieder anders aus. Da gibt es bei jeder Wanderung Neues zu entdecken, mal einen Fasan, mal Schirmpilze (im August/September), mal einen verkrüppelten Baum, mal die Luft, die besonders in den goldenen Herbsttagen nach Moder duftet, nach Vergangenem.
Die zwei beiden genießen jeden Tag, da sie noch zusammen sein können. Manchmal erblickt er interessante Motive, um sie zu Hause mit dem Pinsel in Gemälde zu verwandeln. Sie hat Freude an schöner Architektur in der Wald- und Gartenstadt, in der sie wohnen und an Wanderungen am nahe gelegenen großen Müggelsee. Auch an einer Tasse Kaffee in einer Gaststube, die damals zu DDR-Zeiten noch ein Pinkelhäuschen war.
Die beiden Glücklichen leben sozusagen hinter dem Mond. Das Auto haben sie abgeschafft. Lieber gehen sie zu Fuß. Neueste technische Geräte, z.B. für die Küche, sind ihnen zuwider. Erst nach langem Zögern lassen sie sich von ihren Kindern zu seinem und ihrem Geburtstag einen großen Flachfernseher schenken. (Auch wegen der besseren Tonqualität für den Vater, der stets eine Hand ans Ohr legen muss, um klarer zu verstehen.)
Was aber soll man mit einem größeren Bildschirm anfangen, der Belanglosigkeiten in einem nun noch größeren Format in die schon fast leeren Köpfe hämmert? Der Alte denkt mit Grausen an die Jubelfeiern am 9. November letztlich am Brandenburger Tor zurück. Die Massen verströmen Freude und Genugtuung über ein vermeintlich besiegtes altes Regime. Wer verstünde sie nicht? Ihre Gefühle und materiellen Bedürfnisse, die ungenügend befriedigt werden konnten? Sind sie glücklich? Und wie lange? Der Sog des Geldes ist allmächtig. Wer fragt sich, ob dabei die Würde der Menschen hopsgeht – wen interessiert das schon? Und in welches Nest sie gesetzt wurden, wo die Angst um die Arbeitsplätze millionenfach die echten und die angeblichen „Ängste“ vor der „Stasi“ übersteigt? Doch, die Fragen nehmen zu...
Was hat sich der kapitalistische Teil Deutschlands 1990 nur ins Nest zurück erobert! Man schämt sich regelrecht, undankbar zu sein. Da ist man schon froh, glückliche Menschen anzutreffen, die „endlich“ reisen dürfen soviel und wohin sie wollen, die Bananen essen können, soviel sie wollen, die auf den Staat schimpfen können, was das Zeug hält und niemand schwärzt sie an. Brave Bürger umgeben den Staat und zucken nur zusammen, wenn das Geld knapp wird. Selbst dann nicht oder kaum gehen sie auf die Straße. (Wie toll allerdings u.a. die Proteste gegen Fluglärm und Müggelseeüberflüge, siehe Schönefeld...) Übrigens besagt eine englische Studie, dass sich in 27 europäischen Ländern 87 Prozent der Menschen eine andere, humanere Gesellschaftsordnung vorstellen können.
Was braucht eigentlich ein Mensch, um glücklich zu sein? Natürlich Arbeit, Brot, ein gutes Zuhause und eine gesundheitliche Pflege, die unabhängig vom Geldbeutel in Anspruch genommen werden kann. Denke man nur an Tolstois Geschichte „Wie viel Erde braucht der Mensch“.
Während der Blick der zwei Alten immer wieder über die weiten Felder streicht, sucht der Maler in ihm neue Motive. Die muss er entdecken, sie fliegen einem nicht zu, sie muss man suchen, was heißt, die Augen offen zu halten und den Grips in Bereitschaft. Er bleibt ein Suchender...
Beide schlendern langsam nach Hause. Sie verlassen Wald, Feld und gute Wege. Bis Morgen, sagen sie in Gedanken! Sie kommen am „Griechen“ vorbei, einer nahegelegenen Gaststätte, in der sie so gerne hin und wieder einkehren, oft mit ihrem Besuch oder mit ihren Verwandten. Am Eingang stehen – mal eine hübsche Sie, mal der freundliche griechische Besitzer – und winken das Paar heran, wie sie es schon öfter getan haben: „He, kommt mal“, rufen sie lachend. Sie strecken uns ein Tablett entgegen: Zwei griechische Schnäpse Ouzo! Na dann – Prost! Und die Freude ist groß. Beiderseits...
(Textauszug, Dem Morgendämmern vorauseilende Lichtblicke, S. 11)