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"Böse" Erinnerungen

#1 von henry77 , 01.10.2016 19:05

„Böse“ Erinnerungen...



...anlässlich des bevorstehenden 03. Oktober 2016: Zum Beispiel: Wie war das nur möglich, einen Patienten acht Wochen lang im Krankenhaus zu betreuen, ohne dass er auch nur ein Pfennig dafür bezahlen musste? Schon allein dieser Fakt dürfte ausreichen, ins Grübeln zu kommen. Darum an dieser Stelle ein weiteres  „böses“ Gedenken. Siehe diese Leseprobe:

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Harry Popow: "DÄMMERZEIT.  EIN KESSEL STREITLUST", epubli-Verlag. Taschenbuch, Format DIN A5, 204 Seiten, ISBN: 978-3-7375-3822-0, Preis: 11,99 Euro, zu bestellen: 
http://www.epubli.de/shop/buch/D%C3%84MM...8220/52205 ;

Telefon: 030/ 617 890 200


Ein Essay

Gefährliches Erbe

Eine Laudatio auf ein unbezahlbares DDR-Kapital

Hey, der macht einem wirklich Sorgen. Zum Beispiel der ehemalige Innenminister
von Brandenburg, Jörg Schönbohm (CDU). Hatte der doch allen Ernstes behauptet, in
den neuen Bundesländern gebe es „eine verbreitete Stillosigkeit – im Umgang wie
bei der Kleidung“. Aufgrund der „Entchristlichung“ in der DDR fehle vielen
Menschen außerdem „ein geistlicher Halt“. Ein Politiker kommentierte dazu treffend,
dieser Mann könne seinen „Ekel vor Ostdeutschen nicht mehr verbergen“. („junge
Welt“, 23.11.2009)

Das lässt einem keine Ruhe. Der arme Mann. Wie muss er sich während seiner
Amtszeit gequält haben. Lauter Ossis um ihn herum. Es muss wohl ein starkes
Gegengift in ihm gewesen sein, so etwas auszuhalten. Ist dem Mann überhaupt zu
helfen? Will er sich helfen lassen? Jedenfalls muss ein Virus in ihm stecken, der nicht
totzukriegen ist. Also her mit einem Eimer … Für einen Hartgesottenen aus der Gilde
der Unbelehrbaren.

Und diese Gilde ist riesengroß. Selbst wenn man die meisten Medien und die Reden
der Politikergarde unter die Lupe nimmt, dann weiß man, wie miserabel es den
heutigen Machtbeflissenen geht. Sie deckeln alles ab, was einmal der andere Teil
Deutschlands war. Sie lassen auch nach zwanzig Jahren keinen grünen Zweig an der
DDR. Was könnte denen - also auch dem einstigen General der Bundeswehr - in die
Quere gekommen sein?

Dabei haben die Oberen aus der vollständigen Vereinnahmung Ostdeutschlands
glänzend profitiert. Sämtliches Volkseigentum haben sie wieder an sich gerissen und
mit dem Osten neue Absatzmärkte geschaffen. „Vom Volkseigentum der DDR profitierten
zu 85 Prozent Westdeutsche, zu zehn Prozent internationale Konzerne
und nur zu fünf Prozent DDR- Bürger. Das Eigentum der DDR wurde durch die
Treuhand verschleudert. Das alles nenne ich nicht Revolution. Es ist die Restauration
des Kapitalismus, was im Herbst keine Forderung des Volkes war.“ („junge welt“,
19.09.2009, Gespräch mit Egon Krenz. Über sein Buch »Herbst ’89«, den Untergang
der DDR und über Legenden und Realität am 9. November vor 20 Jahren). Henry
Nick dazu im ND vom 13.11.2009: „In den vom Zeitgeist so sehr bemühten Wende-
Erinnerungen hätte auch an das Schicksal der ostdeutschen Industrie erinnert werden
müssen. Deren Absturz in den Jahren 1990/92 ist schließlich der spektakulärste
Vorgang in der Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit: Mitten in Europa und mitten im
Frieden wurden über zwei Drittel des Industriepotenzials brach gelegt. Das hatte es
selbst im Gefolge der Weltkriege nicht gegeben.“

Inbesitznahme Ostdeutschlands nach der Implosion der DDR kann doch keinen Ekel
erregen. Oder? Es muss da etwas geben, was sie, die Hassprediger des politischen
Tieffliegergeschwaders und mediengeschädigte Einfaltspinsel nicht vereinnahmen
konnten, was sie nicht mit noch so großen Jubelfesten auch im Jahre 2010
totzuschweigen imstande sind: Das ist der ehrliche Gedanke zurück, der sich nicht
nur mit Halbwahrheiten und Lügen abgibt, sondern dann der Wahrheit näher kommt,
wenn er dabei den gesamten Entstehungsprozeß der DDR als einzigartige Alternative
zum Kapitalismus ins Blickfeld holt. Sicher, die jetzigen Herrschenden mögen es gar
nicht lustig finden, wenn nicht wenige der Älteren unter den einstigen DDR-Bürgern
die Geschichte - mit zwei prüfenden Augen sehend – erzählen und so ihr Wissen und
ihre Erfahrungen an Jüngere würdevoll übermitteln. Kann es nicht sein, dass dabei
Wertvolles zutage kommt, das, was man heute nicht mehr wahrhaben will, was kaum
noch zu finden ist? Kann es da nicht passieren, dass Kritik am Bestehenden
aufkommt, am Marktgebaren? Könnte da nicht ein Dacapo am Himmel aufleuchten?
Ein Wiederaufleben humanistischer Gesellschaftsideen? Herbert Willner hält in dem
Buch „Kundschafter im Westen“, edition ost, S. 310, folgendes fest: Die Herren der
Globalisierung, der Konzerne und Banken hätten längst entsorgt werden können. „Ihr
Fazit: Das darf sich niemals wiederholen! Entsprechend müssen die Reste
sozialistischen Aufbegehrens mit Stumpf und Stiel ausgemerzt werden. Selbst die
Erinnerung muss so gründlich wie möglich getilgt werden. Die Menschen müssen
entsozialisiert, entsolidarisiert und entpolitisiert werden, um sie – Teile und herrsche!
– beherrschen und um jegliche gesellschaftsverändernden Aktivitäten ausbremsen
oder verhindern zu können.“

Die Furcht davor wäre immerhin denkbar, jagt doch ein gewisses Gespenst seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts den Geldmachtbeflissenen Angst und Schrecken ein. Und
nun revanchieren sie sich: Nie wieder Sozialismus/Kommunismus! Der Abgesang des
Sozialismus sei auch das Ende der Geschichte, sagen sie. Aber kann eine Idee so
leicht untergehen? Sind die Gründe dafür denn zu Grabe getragen worden? Wer zählt
die Vernunftbegabten, die dem widersprechen? Einer von vielen ist der Regisseur
Wolfgang Kohlhaase. Er sagt in einem nd-Interview „Wie die Wende ins Kino kam“:
„Das damals prognostizierte Ende der Geschichte ist ja nicht eingetreten, die
Geschichte geht weiter, als großes unbekanntes Abenteuer. Und der östliche
Gesellschaftsversuch ist ja nicht gescheitert, weil die Gründe für den sozialistischen
Welt - Verbesserungs - Entwurf aus dem 19. Jahrhundert sich erledigt haben.
Die Gründe sind noch da.“ Gar nicht nebenbei gesagt: Eine englische Studie,
eine Befragung in 27 europäischen Ländern ergab, dass 87 Prozent der
Menschen sich eine andere, humanere Gesellschaftsordnung vorstellen können.

Gerade heraus: Alte „Ossis“ haben manches in petto, was einfach unbezahlbar ist. So
Generalmajor a.D. Heinz-Joachim Calvelage im „RotFuchs“ vom Dezember 2009.
Das gefiel mir. Man kann sogar von einem Reichtum sprechen der inneren Werte, der
Menschlichkeit, der Draufsicht auf ein Leben in Frieden und gegenseitiger Achtung,
auf die angestrebte – aber nicht immer praktizierte - Würde gegenüber jedem
Einzelnen. Nicht zuletzt auf die systembedingte Möglichkeit, sich nicht der Diktatur
des Geldes unterwerfen zu müssen. So unsere Anfangsbestrebungen. Und das sei
zu vererben? So einfach liegen die Dinge nicht. Inge von Wangenheim schrieb
in der Zeitschrift „neue deutsche literatur“ 3/81, Seite 99, dass sich die
Kinder der ersten Generation, die die DDR aufgebaut haben, damals die
Früchte dieses Sieges bereits genießen konnten, „ohne sich über sein
Zustandekommen noch viel Gedanken zu machen. Warum auch sollten sie?
Ständige Verbeugungen vor Eltern und Großeltern beschränken den Blick
für die Weite des eigenen Horizonts.“ Wie aber kann man eine Hoffnung,
eine Idee, eine Fackel weiterreichen? Wenigstens aber Antennen, sprich
Neugier, für das, was da politisch gespielt wird. Wer will davon
überhaupt noch etwas wissen?

Der Autor dieser Zeilen gehört auch zu den Alten. 1936 geboren und in
der KVP sowie in der NVA gedient von 1954 bis 1986. Im Oktober 1949 mit
der Fackel in der Hand auf dem Lustgarten stehend, jubelte auch ich der
gerade gegründeten DDR zu. Später bildete auch ich junge Männer militärisch
aus und griff schließlich zum Kugelschreiber und schrieb über jene, wie sie
sich plagen, wie sie das Notwendige meistern lernten, den ersten
Arbeiter-und-Bauern-Staat zu schützen. Ja, ich habe als Offizier und
Militärjournalist in der Nationalen Volksarmee zweiunddreißg Jahre
mitgewirkt an einer Alternative zum Krieg, an einem Entwurf für ein großartiges
Gesellschaftsgemälde. Das trägt der Oberstleutnant a.D. mit Würde. Schmerz aber
erfüllte ihn und Millionen anderen Leuten, dass man im kleinen Land mit der Zeit
vieles vermasselt hatte. Eine ganze geschichtliche Periode, ein Startversuch in ein
menschenwürdigeres Dasein ist durch Unvermögen abgestürzt. Auf absehbare Zeit
unwiderruflich. Verspielte Chancen!

Und die standen anfangs nicht schlecht. Was für einen Reichtum wir
angehäuft hatten: Gerne zitiere ich an dieser Stelle noch einmal
Egon Krenz („junge welt“, 19.09.2009), dem es vor allem zu verdanken ist,
dass kein Schuss beim Systemwechsel gefallen war: „In der Erinnerung
vieler wird bleiben, was Menschen heutzutage so schmerzlich vermissen:
Eine solidarische Gemeinschaft, in der der Mensch des Menschen Freund
und nicht sein Wolf ist, in der nicht das Geld diktiert
und soziale Angst über den Tag hinaus regiert, in der es Arbeit für alle gibt und
gleiche Bildungschancen unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Ohne Arbeit kann
es keine wirkliche Freiheit geben. DDR-Bürger kannten ein hohes Maß an sozialer
Gerechtigkeit, es gab gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die Gleichberechtigung der
Geschlechter und der Generationen war selbstverständlich. Solange es die DDR gab,
kamen keine deutschen Soldaten aus Kriegsgebieten in Särgen nach Deutschland.“
Und man gibt dem einstigen Staatsratsvorsitzenden recht, wenn er Nachdenklichkeit
über Deutschland – nicht nur auf die DDR reduziert - einfordert und die Frage stellt,
was denn bewahrenswert aus den Erfahrungen der DDR ist? Wer soll den Enkeln und
Urenkeln Rede und Antwort stehen, falls diese Fragen irgendwann einmal gestellt
werden?

Und tatsächlich, „wie lebt es sich in einem Land“, so Henry Nick (ND 16.10.2009),
„ ohne Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Armut, ohne sehr Reiche, ohne soziale
Ängste; in einem Land, in dem Minister und Generaldirektoren großer Konzerne
höchstens das Vierfache und nicht wie manche Bosse im heutigen Deutschland das
vielhundertfache Einkommen des Durchschnittsverdieners erhalten? Wie lebt es sich
in einem Land ohne Bildungsprivilegien? Wie lebt es sich, wenn
Gesundheitsleistungen kostenlos sind? Wie lebt es sich ohne organisierte
Kriminalität, Drogenkriminalität, in einem Land, in welchem die Kriminalitätsrate
nur ein Sechstel im Vergleich zum benachbarten kapitalistischen Staat beträgt? Gab
es in der DDR nicht in der Tat mehr menschliche Wärme, wie vor der Wende selbst
die »FAZ« äußerte; mehr Hilfsbereitschaft unter den Menschen, mehr
Kinderfreundlichkeit?“

Ja, Herr Schönbohm, die Ekel-Ossis!

Da wagt es doch (siehe nd vom 30.10.2009) ein Kölner Institut den Ostdeutschen in
die Seele zu blicken und entdeckt ganz menschliche Züge. Wolfgang Hübner schrieb
dazu: Von den Ostdeutschen würden zwei Medienbilder existieren: „der Wendeheld
und der Jammerossi.“ … „Die meisten Ossis bewegen sich zwischen den
Stereotypen. Sie zeichnen sich durch »praktizierte Lebensbeherrschung« aus,
weshalb sie auf Luxus verzichten, Obst preiswert kaufen und selbst kochen und
backen. Sie sind bodenständig und naturverbunden, was sich etwa in ihrem Hang
zum Wandern dokumentiert. Sie bevorzugen einen geregelten Tagesablauf mit festen
Aufsteh-, Essen- und Schlafzeiten – im Gegensatz zum »überfrachteten und
fragmentierten westlichen Multioptions-Alltag«. Sie basteln lieber mit ihren Kindern
Kastanienmännchen und genießen dabei »das Gefühl, ein eigenes, konkretes Werk zu 
schaffen«.

Wohl niemand macht sich da etwas vor: Sowohl die vererbungswürdigen
Schätze an DDR-Erfahrungen als auch die subjektiv-dummen, unverzeihlichen sowie teilweise
größeren Zusammenhängen geschuldeten Fehler – sie sind unter einem Dach groß
geworden. Widersprüche, die zu ernsten Konflikten zwischen oben und unten führten.
Was einst als sozialistische Persönlichkeit aus der Taufe gehoben werden sollte,
verdarb mitunter zur Deformation der Menschen im Denken und Verhalten. Was
sollte man denn davon halten, dass in den letzten Jahren vor 1989 kaum heikle
Fragen gestellt werden durften. Weder in den Schulen, noch in den Betrieben.
Gespräche zu politischen Widersprüchen nur hinter der vorgehaltenen Hand? Das ist
unwürdig. So erzieht man nur Jasager und keine reifen, kritikfähigen Mitstreiter in
einer Gesellschaft, die ja etwas ganz Neues in der deutschen Geschichte darstellen
sollte. Das konnte, und vieles andere mehr, nicht gut gehen.

Und es ging nicht gut. Mit recht platzte tausenden Bürgern zu gegebener Zeit der
Kragen. Kann man ihnen nicht verübeln. Wer wollte bezweifeln, dass die meisten von
ihnen eine reformierte DDR wollten. Ob das 1989 noch möglich geworden wäre, sei
dahingestellt. Die Implosion der DDR und des ganzen Sozialismus trieb die
Mauerspechte allerdings nicht in ein vermeintliches Paradies, sondern in die
gesellschaftliche Sackgasse.

Was dem Ostbürger nach der Maueröffnung drübergestülpt, ja zugemutet wurde, das
war mehr als nur Deformation der Persönlichkeit. Er fand sich plötzlich im
Konsumrausch, was natürlich Fröhlichkeit einschließt, er sah sich – bemerkbar oder
nicht – in einem Labyrinth unzähliger verfluchter Fragen und neuen, nicht gekannten
Ängsten. Mehr noch: Manche bemerkten gar nicht, dass die Gegenwart und auch die
Zukunft von der Vergangenheit gefressen wurde. Gunnar Decker schrieb dazu am
23.05.2009 im „ND“: „Die eigentliche Frage dieses Mauerfall-Jubiläumsjahres wird
in den Medien des Landes auffallend viel beschwiegen: Das Leben führt zum Tode,
aber wohin führt die Geschichte? Wir kommen nicht darum herum, das Gestorbene
am Gestern zu trennen von dem, was weiterlebt. Um diesen Prozess der Scheidung
geht es. Im Wiedererinnern wird beides sichtbar: Das, was lebt und das, was tot ist.“
In dem Buch „Vertreibung ins Paradies“, stellte Daniela Dahn auf Seite 207 fest: „Die
DDR war mein Problem, sie hat mich trotz allem betroffen und interessiert, ihre
utopische Potenz bewahrte bis zuletzt einen Impuls von 'Verändern-wollen', sie war
bis zum Schluss wenigsten noch wert, abgelehnt oder auch gehasst zu werden. Die
BRD ist nicht mein Problem, sie langweilt mich, weil sie nichts mit mir zu tun hat.
Sie lässt mich gleichgültig, weil ich nicht daran glaube sie verändern zu können."
Beifall für sie: Das nach „außen“ leben wollen und müssen, sich zeigen, sich
präsentieren, sich verkaufen müssen!! Die Genügsamkeit: Meine Arbeit, mein Haus 1
und Garten, mein Mann, mein Glück!! Maßlose Gier- und Verschwendungssucht der
Geldleute – nein, und nochmals nein, das kann nicht zukunftsbestimmend sein, erst
recht nicht die Kriege, die im Interesse der Machterhaltung der globalisierten
Marktanbeter geführt werden.

Mir gefiel, was Countertenor Jochen Kowalski in diesem Zusammenhang am
14.11.2009 gegenüber dem ND äußerte: „Für nichts ist mehr Ruhe, Zeit und die
nötige Freiheit von Druck da. Man hat Angst, nicht mehr besetzt, gar entlassen zu
werden, die Menschen sind in einem erbärmlichen Maße damit beschäftigt, sich
wichtig und unentbehrlich zu machen. Das ist doch irre: Alle fühlen sich frei, und
jeder geht zum Psychiater.“

Was will denn eigentlich der normale Bürger? Man denke an die Geschichte von Leo
Tolstoi „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ Darin ging es um die Gier eines Bauern,
mehr Land haben zu wollen, als er eigentlich bearbeiten kann. Daran ging er zu
Grunde. Heute sind die Läden zwar voll mit allem was das Herz begehrt, aber das,
was ihn erst innerlich reifen lässt und seine Würde unterstreicht, das ist die Arbeit.
Und eine bezahlbare Wohnung. Und eine kostenlose Gesundheitsversorgung. Und
Liebe. Und das in einem Gesellschaftssystem, das dies durch eine andere Verteilung
des Reichtums als Rahmenbedingung garantieren könnte. „Ich denke, ich bin kein
gieriger Mensch. Deshalb ist es nicht mein System. Wie viele Menschen, die ich
kenne, wünsche ich mir einen sicheren Arbeitsplatz, eine Wohnung, die ich bezahlen
kann – alles andere richtet sich. Das kann und will mir das System nicht garantieren.
Braucht es mich nicht mehr, stößt es mich ab. Ich und viele andere kriegen die Krise,
wenn sie daran denken.“ So die Meinung von Christina Matte (ND, 28.05.2009).
Wohin führen Deformationsprozesse, wenn Leute nicht gefragt sind, wenn es nur ums
Geld geht, wenn Nachdenken über Visionen nur ein abfälliges Lächeln erzeugen? Ein
bemerkenswertes Eingeständnis von Maxim Leo, eines einstigen DDR-Bürgers, in
seinem Buch „Haltet euer Herz bereit“ (Seite 15): „Ich habe einen gut bezahlten Job
in einer Zeitung, und meine Hauptsorge besteht gerade darin, ob wir in unserer Küche
Dielen- oder Steinfußboden haben sollten. Ich brauche keine Haltung mehr zu zeigen,
muss mich nicht engagieren, benötige keinen Standpunkt. Politik kann ein
Gesprächsthema sein, wenn einem sonst nichts einfällt. Nicht die Gesellschaft, ich
selbst bin zum Hauptthema meines Lebens geworden. Mein Glück, mein Job, meine
Projekte, meine Träume.“ Ohne Kommentar!

Spätestens hier sei die Frage angebracht: Bräuchte nicht ein einstiges
Siebzehnmillionen-Volk angesichts fehlender Zukunftsvisionen sehr viele Eimer?
Ist das nicht grotesk: Zur Zeit der Jubelfeiern zum „Mauerfall“ um den neunten und
zehnten November 2009 herum, bei der auch der letzte Ruf nach einer Debatte über
grundsätzliche gesellschaftliche Alternativen zu Grabe getragen werden sollte,
versammelten sich Historiker, Politologen, Schriftsteller und Informatiker zu einer
Podiumsdiskussion an der FU Berlin. Sie diskutierten über den Sozialismus, über die
Aktualität einer Utopie. „Wir wollen darüber reden,“ so heißt es, „wie eine
Gesellschaft aussehen könnte, in der nicht Profit und Markt, sondern gesellschaftliche
Bedürfnisse die Produktion bestimmen, in der die Verteilung von Arbeit und
Ressourcen demokratisch geplant wird. Eine Gesellschaft ohne selbst produzierte
Sachzwänge, eine Gesellschaft, die willens und fähig ist, der ökologischen
Katastrophe zu entgehen. Eine historische Analyse des sogenannten »real
existierenden Sozialismus« ist dabei unverzichtbar.“

Unter diesen – nun erst recht wieder erstrebenswerten – Bedingungen lassen sich
leichter jene Werte ansteuern, die ansonsten immer mehr ins Hintertreffen geraten
könnten. Der Schriftsteller K.H. Roehricht stellte dazu in seinem Buch
„Großstadtmittag“ S. 206 fest: „Es sind immer die Zuverlässigkeit und die
Bescheidenheit, der Fleiß und die Güte, die einen Menschen seinen wahren Wert auch
außerhalb der Bildung geben.“ Und Christa Wolf fragt sich, „was will der Mensch. …
Der Mensch will starke Gefühle erleben, und er will geliebt werden. Punktum.“
Sicher, Liebe, verbunden mit andauernder herzlicher Kameradschaft, verändert nicht
die Welt – aber sie gibt Halt und Kraft, im Leben zu bestehen und manchmal mehr zu
tun, als verlangt wird. Dann erst wächst einer über sich selbst hinaus. Nicht die
Funktion, der Besitz materieller Dinge, das Getue – dieses ganze Blendwerk der
Macht und Ehrgeizgierigkeit – nicht dies ist es, was die Reife eines Menschen zeigt,
seine Seele aufdeckt, ihn zum Menschen macht. In ihrem sehr bemerkenswertem
Buch „Meine ersten drei Leben“ entwirft Ingeborg Rapoport ein sehr schönes Bild
vom Menschen (Seite 36): „Aber ist nicht jeder besonders, und leuchtet nicht jeder in
der Berührung mit einem anderen auf, vielleicht nur für kurze Zeit – wie das Laub
draußen im Garten, wenn die Sonnenstrahlen hindurchgehen? Und hat nicht jeder das
Recht, mit Liebe aus der Erinnerung geholt zu werden für eine kleine flüchtige
Wiederkehr ins Leben?“

Kulturgeschwätz? Hirngespinste der Alten? Wer winkt da ab? Klarsicht und Vernunft
stünden den Deutschen besser zu Gesicht… Eimer ade also... Und das auf beiden
Seiten der noch existierenden „Mauern in den Köpfen“, wie man zu sagen pflegt.


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